Gedanken zum Neuen Jahr

Neujahr 2021

Liebe Gemeinde, 

in diesem Jahr kommen die Gedanken zur Jahreslosung einmal schriftlich zu Ihnen und Euch. Die Jahreslosung ist ein biblischer Vers, der uns als Motto durch das neue Jahr begleiten kann. „Barmherzigkeit“ ist das zentrale Thema im Jahr 2021. Die Jahreslosung kommt diesmal aus der sogenannten Feld -Rede des Evangelisten Lukas:

Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist. Lukas 6,36

Was meint Jesu, wenn er von Barmherzigkeit redet? Manchmal ist es gut, sich einem viel gebrauchten Begriff noch einmal wie neu zu nähern, nämlich indem ich nach seiner Herkunft frage. Im Deutschen ist Barmherzigkeit eine Ableitung des lateinischen Begriff „miseri cor dia“ (Ein Herz für Arme. Schwache haben). In einem Artikel von Wikipedia habe ich einen zentralen Gedanken dazu gefunden: „Barmherzigkeit ist eine Eigenschaft des menschlichen Charakters. Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not und nimmt sich ihrer mildtätig an.“

Es geht also bei Barmherzigkeit um eine grundsätzliche Haltung dem Leben anderer gegenüber, nicht nur um ein spontanes Gefühl wie Mitgefühl. Allerdings äußert sich eine grundsätzliche Haltung auch in spontanen Gefühlen. Wie in der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukas 10). Als der einen von Banditen schwer Verletzten in der Einöde liegen sieht, da wird im „weh ums Herz“ (so die wie ich meine beste Übersetzung dieser zentralen Stelle der Geschichte durch Fridolin Stier). Wer ein offenes Herz hat und es sich bewahrt, der oder die ist barm-herzig. Eine Haltung, die in allen, die mir begegnen, Menschen sieht, und mich damit selbst menschlich macht.

Im Hebräischen kommt das Wort racham (erbarmen) von rächäm  (Mutterschoß). Die jüdische Sprache ist ganzheitlich und sehr bildhaft. So wie wir im Deutschen z.B. sagen „etwas geht mir an die Nieren“, so gebraucht das Hebräische viele leibbezogene Bilder für Gefühle und Haltungen. Wenn Erbarmen mit Mutterschoß assoziiert wird, wird deutlicher als mit jeder komplizierten Erklärung, dass es hier zunächst einmal um eine Ur-erfahrung geht. Eine Erfahrung, die wir als angewiesene kleine Menschen am Anfang unseres Lebens gemacht haben, wenn denn alles so war, wie es sein sollte. Wenn wir Mütter und auch Väter gehabt haben, die uns mit einem offenen Herzen und viel Liebe ins Leben begleitet haben. Barmherzigkeit ist eine Erfahrung und eine Ureigenschaft der Menschlichkeit. Sie kommt aus dem Mutterschoß, aus dem Urgrund des Lebens.  Sie kommt von Gott. 

Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist. Wie passen Mutterschoß und die Rede von Gott als „Vater“ zusammen? Die Bibel und auch Jesus haben damit kein Problem. Im Lukasevangelium, im 15. Kapitel vergleicht Jesus Gott mit einem Vater, mit einem Hirten, mit einer Frau, die einen Groschen verliert. Und immer geht es darum, Gottes Barmherzigkeit in einem Gleichnis zu verdeutlichen. Und so ist auch das Bild vom Mutterschoß nicht nur ein menschliches, sondern auch ein göttliches  Bild.

Die wie ich finde unübertroffen schönste Geschichte des Alten Testaments zu Gottes Barmherzigkeit ist die Erzählung vom Profeten Jona, der so gar nicht recht ins Bild eines gottergebenen Profeten passt. Eigentlich ist seine Geschichte nicht so sehr eine Geschichte über Jona, sondern eine über Gott. Eine herzergreifende Geschichte über Gott, die deutlich macht, dass Barmherzigkeit in der Tat eine Ureigenschaft Gottes ist. Von ihr profitieren nicht nur die reumütigen Menschen von Ninive, sondern auch ein dickköpfiger, selbstgerechter Profet, der von Gottes Liebe nicht viel verstanden hat, und ihm seine Barmherzigkeit zum, Vorwurf macht. Lesen Sie vielleicht mal in den nächsten Tagen diese Geschichte. Ich kann mich an ihr nicht sattlesen und satthören, seit ich ein Kind bin.

Barmherzigkeit gehört zu den wichtigsten Eigenschaften Gottes. Darum ist in Matthäus Vision von Weltgericht (Matthäus 25) die menschliche Barmherzigkeit das Kriterium dafür, ob Menschen zu Gott gehören. Gott ist selbst barmherzig. Gott identifiziert sich mit denen, die auf Gottes Liebe besonders angewiesen sind: hungernde, durstige, entwurzelte, nackte, kranke, gefangene Menschen. Menschen also wie die Flüchtlinge, die in Bosnien gerade zu Hunderten in Bussen oder auf freiem Feld in der Kälte ausharren müssen, viele ernsthaft krank, weil niemand sie aufnehmen will. Wer Menschen wie ihnen hilft, wer sein Herz für Menschen wie sie öffnet, der öffnet sich Gott selbst, sagt Jesus.

Nicht immer haben wir die Möglichkeit Menschen zu helfen, die derart in Not sind, wie die jungen Geflüchteten in Bosnien. Aber auch in unserer unmittelbaren Nähe sind Menschen auf uns angewiesen. Auf unser Verständnis, auf unsere Zeit, unsere konkrete Hilfe in Worten oder Taten. Seit der Coronapandemie ist das mehr denn je so.

Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist. Es geht Jesus in seinem Satz  nicht darum vor uns selbst rechtfertigen zu können, wie viel Zeit, wie viel Geld, wie viel Geduld wir mit anderen haben oder gehabt haben. War es genug? Genügen wir vor Gottes Augen? Nein, darum geht es nicht. Wer so vor sich selbst rechnet, vergisst, dass Gottes Barmherzigkeit auch uns gilt, die wir auch nur Menschen sind. Jesus macht uns Mut, aus dieser göttlichen Barmherzigkeit zu leben: Im Umgang mit anderen und auch mit uns selbst. Wer sich selbst lieblos ausbeutet, kann anderen nicht mit Liebe begegnen. Dann wird Barmherzigkeit zur Pflicht und nicht zu einer Haltung der Liebe.

Übrigens ist in allen großen Religionen Barmherzigkeit eine der wichtigsten Eigenschaften Gottes und gläubiger Menschen. Im Islam z.B. beginnen 113 der 114 Suren des Korans mit der Formulierung: „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“. Barmherzigkeit ist die Eigenschaft, mit der sich Gott im Koran am häufigsten selbst identifiziert.

Dazu zum Schluss eine schöne muslimische Erzählung: Der Bagdader Mystiker Schibli starb 945. Nach seinem Tod sah ihn einer seiner Freunde im Traum und fragte: „Wie hat Gott dich behandelt?“ Er sagte: „Er hat mich vor Sich gestellt und gefragt: ,Abu Bakr, weißt du, weshalb Ich dir vergeben habe?‘ Ich sagte: ,Wegen meiner guten Werke.‘ Er sagte: ,Nein.‘ Ich sagte: ,Weil ich in meiner Anbetung aufrichtig war.‘ Er sagte: ,Nein.‘ Ich sagte: ,Wegen meiner Pilgerfahrt und meines Fastens und meiner Pflichtgebete.‘ Er sagte: ,Nein, nicht deswegen habe Ich dir vergeben.‘ Ich sagte: ,Wegen meiner Reisen, um Wissen zu erwerben, und weil ich zu den Frommen ausgewandert bin?‘ Er sagte: ,Nein.‘ Ich sagte: ,0 Herr, dies sind die Werke, die zur Rettung führen, die habe ich über alles gestellt und bei denen habe ich gedacht, dass Du mir ihretwegen vergeben würdest!‘ Er sprach: ,Doch nicht um all dieser Dinge willen habe Ich dir verziehen!‘ Ich sagte: ,0 Herr, weshalb denn?‘ Er sprach: ,Erinnerst du dich, wie du durch die Gassen von Bagdad gingest und ein Kätzchen fandest, das vor Kälte ganz schwach geworden war und von Mauer zu Mauer lief, um Schutz vor der schneidenden Kälte und vor dem Schnee zu suchen, und du hast es aus Mitleid aufgehoben und in den Pelz gesteckt, den du trugst, und hast es so vor der Qual der Kälte geschützt?‘ Ich sagte: ,Ja, ich erinnere mich.‘ Er sprach: ,Weil du mit dieser Katze Erbarmen hattest, darum habe Ich Mich deiner erbarmt.‘“   (Annemarie Schimmel: Die orientalische Katze. Mystik und Poesie des Orients) 

Ich wünsche Ihnen und Euch für das neue Jahr Mut zur Barmherzigkeit sich selbst und anderen, gegenüber und die häufige Erfahrung, dass andere mit Ihnen und Euch barmherzig sind!

Ihre /Eure                                                                                                                                                              

Annerose Frickenschmidt