Predigt zum Überfall Putins auf die Ukraine (Annerose Frickenschmidt)

Lesung zur Predigt 27.2.22 Markus 10,13-16

Im Markusevangelium im 10. Kapitel wird erzählt,
dass einmal Leute ihre Kinder zu Jesus brachten.
Sie wollten, dass Jesus die Kinder segnete.

Aber die Jünger fuhren die Eltern an und wiesen sie schroff ab. Als Jesus das sah, wurde er zornig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran, denn ihnen gehört Gottes Reich. Ich sage euch, nur wer von euch das Reich Gottes wie ein Kind aufnimmt, wird darin zuhause sein.

Und Jesus nahm die Kinder in die Arme und legte seine Hände auf sie und segnete sie.

Predigt
Höt doch mit dem Scheessen op! Seht ihr dann net, dat he Lück stonn? (Hört doch mit dem Schießen auf. Seht ihr den nicht, dass hier Leute stehn?) So steht es auf dem Orden der Kölschen Roten Funken von 1966 (s.u.). Kölner Stadtsoldaten sollen das vor 200 Jahren den französischen Truppen zugerufen haben. Dazu gab es 1966 eine Karikatur, die morgen bei der Friedensdemonstration in Köln auch einen der wenigen Wagen zieren wird, an denen die Teilnehmenden vorbeikommen werden. Ich werde mit meinem Mann auch da sein. Putin wird das nicht interessieren, aber es wichtig ist, sich zu vergewissern, dass wir mehr sind als stumme Zeugen*innen von Menschenverachtung und Tyrannei, und die Ukrainer und Ukrainerinnen auch in Deutschland sollen wissen, dass wir an sie denken und mit ihnen fühlen, soweit wir ihr Leid und ihre Angst überhaupt fassen können.
Höt doch mit dem Scheessen op! Seht ihr dann net, dat he Lück stonn? Als ich das vor Jahren das erste Mal gelesen habe, musste ich sehr lachen, weil das so klug und so kölsch auf den Punkt gebracht war. Ich finde es immer noch sehr klug. Was soll das Bomben und Schießen und Morden? Das fragen wir uns ja, zornig, ungläubig: Seht ihr denn die Menschen nicht? Neben all dem Unerträglichen, den Lügen, der Gier, der Dreistigkeit, mit der die Regeln des Völkerrechts außer Kraft gesetzt werden und eine junge Demokratie, die mühsam erkämpft wurde, zerstört werden soll, ist es ja das, was uns am meisten aufwühlt in diesen Tagen; der Anblick der verängstigten, müden Menschen, die Tränen der jungen Männer, der alten Frauen, der Kinder. Und Selenskys unmittelbarer Appell an die Menschen in Russland, die Menschen in der Ukraine zu sehen, der Kriegspropaganda Putins nicht zu glauben.
Was sehen Tyrannen? Was sehen Befehlshaber, die zum Töten und Morden aufrufen?
Nur wer von euch das Reich Gottes wie ein Kind aufnimmt, wird darin zuhause sein, sagt Jesus zu denen, die Gottes Segen im Weg stehen. Seine eigenen Jünger in diesem Fall. Sie sehen nicht, worum es geht, was wesentlich ist und was unwesentlich. Sie fühlen sich gestört von Leuten, die Gutes ersehnen: Segen für ihre Kinder. Abweisend stehen sie zwischen Jesus und den Leuten mit ihren Kindern. Jesus sieht. Jesus sieht die Leute, die voller Vertrauen zu ihm kommen, er sieht die kleinen Kinder, die abhängig sind von dem, was die Erwachsenen über sie beschließen.
Jesus fährt seine Jünger zornig an, enttäuscht von ihrer Blindheit. Lasst die Leute mit ihren Kindern durch, geht zur Seite. Hier, diesen kleinen Kindern gehört Gottes Reich. Täuscht euch nicht. Ihr seid nicht wichtiger als sie. Nein, wenn ihr Gott nahe sein wollt, dann seht auf diese Kinder. Gott sieht. Gott sieht, wer anderen Segen verweigert. Gott sieht zuallererst die, die keine eigene Macht haben, die von den Mächtigen zu Opfern gemacht werden. Gott sieht die Zarten, die Verletzlichen, die die angewiesen sind auf Aufmerksamkeit, auf Liebe, auf Schutz, Kinder, Frauen, Männer.
Nur wer von euch das Reich Gottes wie ein Kind aufnimmt, wird darin zuhause sein.
Kinder haben Gesichter. Sie können sich nicht wie Erwachsene hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit verbergen. Putins Gesicht, das fällt so auf in diesen Tagen, ist eine Maske. Lernt von den Kindern, sagt Jesus, behaltet eure Gesichter, eure Menschlichkeit, eure Verletzlichkeit. Bleibt offen für Freude und Trauer, für Hoffnung und Schmerz und Mitgefühl, dann steht euch Gottes Reich offen.
Kinder sind unmittelbar. Sie können lügen und auch taktieren, aber sie können nicht in kalter Berechnung Wahrheit unterdrücken und Lügen zur offiziellen Wahrheit erklären.
Kinder sehen. Kinder sehen, dass der Kaiser nackt ist. Kinder sehen, was Bomben anrichten. Kinder streiten, Kinder können gemein sein, auch grausam. Aber Kinder können sich nicht blind und gleichgültig machen, es sei denn sie werden von Erwachsenen darauf getrimmt.
Ihnen gehört Gottes Reich.
Und wir, die wir keine Kinder mehr sind?
Wo ist die Tür zu Gottes Reich für uns? Gerade wird uns vorgeführt wo sie nicht ist. Sie ist nicht da, wo Erwachsene sich kindisch gebärden. Wo ein erwachsener Mann einen Krieg beginnt, weil er Großmachtträume hat, ohne Rücksicht auf Menschenleben, ohne Rücksicht auf Recht und Wahrheit.
Sie ist nicht da, wo wir dem Segen im Weg stehen, den Gott doch so reichlich gibt, und geben will, zuallererst den Kleinsten und Schwächsten unter uns.
Sie ist nicht da, wo wir uns selbst so wichtig nehmen, dass wir die nicht mehr sehen, die auf uns angewiesen sind. Die Segensbedürftigsten unter uns.
Die Tür zu Gottes Reich für uns ist da, wo wir wagen verletzlich zu sein, zart nicht nur in der Wahrnehmung unserer eigenen Gefühle und Bedürfnisse, sondern der der anderen auch. Wo wir nicht verbergen, dass auch wir angewiesen sind auf Segen und diesem Segen Platz machen, damit er auch andere erreicht.
Die Tür zu Gottes Reich ist da, wo wir sehen: Leid und Unrecht und Wahrheit. Wo wir sehen und auch sagen, dass der Kaiser keine kostbaren Kleider trägt, sondern nackt ist und dumm dazu. Wo wir Leid sehen und es uns nicht gleichgültig lässt.
Die Tür zu Gottes Reich ist auch da, wo wir in aller Trostlosigkeit offen bleiben für Licht und Hoffnung.
Letzte Woche habe ich mit den Kindern des Kindergartens in Hilgen das Hungertuch an der Wand (s. Bild unten) angesehen. Ich hatte, als ich das Hungertuch zum ersten Mal sah, lange über den Strichen gerätselt, dann mit viel Hilfe verstanden, dass es um das Röntgenbild eines verletzten Fußes geht. Der Fuß eines Menschen, der in Chile bei einer Demonstration gegen ungerechte Verhältnisse von Polizisten schwer verletzt worden ist. Die chilenische Künstlerin will mit diesem Bild Leid und Ungerechtigkeit sichtbar machen. Gleichzeitig will sie auch Hoffnung machen, dass Wandel möglich ist, dass Solidarität in der Welt Wunden heilen kann. Dafür stehen z.B. die goldenen Blumen. Sie gehören zu der Bettwäsche eines bayrischen Krankenhauses und eines Frauenklosters, auf die sie ihr Bild gemalt hat. Ich habe die goldenen Blumen erst nicht gesehen und nur auf die schwarzen Striche gestarrt. Als ich die Kinder gefragt hab, was sie sehen, sagten sie: Schwarze Striche! Und goldene Blumen!
Nur wer von euch das Reich Gottes wie ein Kind aufnimmt, wird darin zuhause sein.
Kinder sehen Leid und Tod und Gewalt. Sie können es sich nicht vom Leib halten. Das wissen alle unter ihnen, die den 2. Weltkrieg als Kinder erlebt und erlitten haben.
Es ist furchtbar zu ahnen, was gerade in der Ukraine wieder in Kinderseelen angerichtet wird. Da und an den Grenzzäunen und in anderen Kriegsgebieten unserer erwachsenen Welt.
Nichts ist daran zu beschönigen. Aber wenn wir ganz verzweifeln wollen, dann ist es schon gut daran zu denken, was Kinder uns auch lehren können: Dass wir auch die goldenen Blumen sehen. Dass wir auch die Momente der Hoffnung und Würde und Menschlichkeit sehen. Dass jetzt in der Ukraine die gegenseitige Solidarität überwältigend ist, dass Menschen, die im Auto fliehen, anhalten, um Fremde mitzunehmen, die kein Auto haben. Dass es Freiwillige gibt, die an den Grenzen Flüchtende empfangen und versorgen, dass der Präsident der Ukraine den Mut und die Größe hat, sich unmittelbar an die Menschen in Russland zu wenden statt nur den Hass zurückzugeben. Und wenn morgen im Köln am Rosenmontag keine Kamelle fliegen, sondern Menschen mit oder ohne Kostüme für Frieden demonstrieren, wird keine Bombe weniger fallen, aber auch diese Demonstration wird ein Zeichen der Menschlichkeit sein. Eine Erinnerung daran, dass niemand je schießen soll, wo Menschen stehen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen