Predigt vom 25.2.24 anlässlich der ForuM-Studie

Predigt am 25. Februar 2024, Sonntag Reminiszere
über Matthäus 18, aus Anlass der ForuM-Studie (veröffentlich am 25. Januar 2024)

Liebe Gemeinde!
Über sexualisierte Gewalt zu sprechen ist unangenehm.
Ich spüre es, wenn ich in Gruppen dieses Thema einbringe.
Ich spüre es, wenn ich die Lesungstexte für diesen Gottesdienst heraussuche und mich winde. Im 2. Buch Samuel (Kapitel 13) wird geschildert, wie Tamar von ihrem Bruder vergewaltigt wird. Wie sie Vertrauen zu einer nahen Person hatte – und wie dieses vertrauen ausgenutzt wird. Es ist gut, dass die Bibel auch solche dunklen Geschichte erzählt und nicht verschweigt.
Aber diese Geschichte als Lesung im Gottesdienst vorlesen?
Wie sitzen wir danach hier? Entweder wischen wir es weg – jaja, das gibt es auch, komm mir damit nicht zu nah. Oder wir denken an die, vielleicht auch an uns selbst, die Übergriffe und sexualisierte Gewalt und Demütigung erfahren mussten. Und sind wie gelähmt.
Ich habe mich stattdessen als ersten Lesungstext für Psalm 6 entschieden, einen Schrei nach Gottes Gerechtigkeit – aus dem Mund einer Frau oder eines Mannes, die Gewalt erfahren haben.
Meine Gebeine sind erschrocken – alles in mir ist wie erstarrt – aber ich rufe Dich, Gott.
Wir wissen von sexualisierter Gewalt. Auch in der Ev. Kirche ist sexualisierte Gewalt geschehen – die ForuM-Studie, die am 25. Januar veröffentlicht wurde zeigt die Ergebnisse einer unabhängigen Untersuchung. Sicher – oder hoffentlich – haben Sie in der Zeitung oder in den Nachrichten davon gehört.
Und neben einigen anderen Faktoren, die für unsere ev Kirche typisch sind und dazu beigetragen haben, dass diese Gewalt Nicht wirkungsvoller bekämpft wurde,
neben anderen Faktoren ist es auch unsere Ev Theologie, die die Betroffenen zu wenig gesehen und den Tätern nicht genug Einhalt geboten hat.
Die Rechtfertigungslehre mit ihrem großen Vertrauen in die Macht der Vergebung, die typisch evangelisch in unserem Reden und Denken einen so großen Raum einnimmt. So groß, dass uns die unabhängige Studie spiegelt, es werde beinahe ein Automatismus zwischen Schuld und Vergebung nahegelegt.
Wir leben so sehr in dem Bewusstsein, dass wir alle SünderInnen sind und auf Vergebung angewiesen, dass wir manchmal den Schritt der Reue und Umkehr nicht so wichtig nehmen -überspringen. So ist Vergebung nach biblischer Vorstellung nicht gemeint. Dazu gleich mehr, wenn wir die Schriftstelle Matthäus 18 genauer ansehen.
Die unabhängige ForuM-Studie beschreibt, wie Täter durch diese vermeintlich einklagbare Vergebung geschützt worden sind. „Wir wollen ihm doch keinen Stein in den Weg legen, jeder hat eine zweite Chance verdient“.
Wenn ein Fall sexualisierter Gewalt ans Licht gekommen ist, haben Täter (es waren verschwindend wenig Frauen) oft die Stelle gewechselt. Die neuen Gemeinden sind in der Regel nicht über den Verdacht oder den Tatbestand informiert worden, Pfarrer mussten ihr Amt nicht niederlegen, Pädagogen durften weiter mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Und sie sind häufig wieder zu Tätern geworden. Unerträglich ist das.
Wie konnte es dazu kommen?
Und was sollen wir jetzt darüber denken?
Wenn wir beim Beten des Vater unser bitten: „Und vergib uns unsere Schuld!“ dann bitten wir in dem Bewusstsein darum, dass wir immer wieder darauf angewiesen sind, dass Gott, dass andere uns vergeben. Wir beten aber auch mit dem Wissen, dass Vergebung ein Geschenk ist. Dass sie den Schuldigen, den Tätern nicht verfügbar oder einklagbar ist.
Ich möchte gerne das Kapitel aus dem Matthäusevangelium mit Ihnen angucken, das wir in der Lesung gehört haben. In ihm werden genau diese Themen ausführlich behandelt. Zuerst nenne ich den Satz, der womöglich zu so etwas wie diesem Automatismus von Schuld und Vergebung geführt hat. Er steht weiter hinten im Kapitel, aus dem Sie eben bei der Lesung schon vieles gehört haben:
Vers 23: Petrus fragt Jesus: „Wenn mein Bruder oder meine Schwester mir unrecht tut, wie oft soll ich ihnen vergeben? Bis zu siebenmal?“ Jesus antwortet: „Nicht nur siebenmal. Ich sage dir: bis zu siebenundsiebzig mal!“
Dieser Satz ist groß. Groß ist seine Wirkungsgeschichte. Wir verstehen aber nicht richtig, wenn wir nicht den gesamten Zusammenhang hören.
Das Kapitel 18 beginnt mit dem Kinderevangelium. Uns ist die Erzählung von der Kindersegnung von Markus vertrauter, weil es bei beinahe jeder Taufe gelesen wird. Aber auch der Evangelist Matthäus erzählt davon, wie Jesus über Kinder denkt. Auf die Frage „Wer ist der Wichtigste im Himmelreich?“ ruft Jesus ein Kind und stellt es in die Mitte.
Der Umgang mit sexualisierter Gewalt, wie ihn die Forum-Studie beschreibt, ist das genaue Gegenteil. Wie oft waren die von Gewalt betroffenen, die Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht im Blick. Gekümmert wurde sich um die Täter und wie sie weiter ihren Dienst tun können. Das liegt auch an einem Umgang mit Kindern, der ihre Interessen nicht in den Blick nimmt, wie er in den 50er, 60er, 70er Jahren verbreitet war und an dem sich Gott sei Dank vieles geändert hat.
Dennoch! Die Bibel ist alles andere als ein modernes Buch, aber Jesus ist so klar in seiner Haltung und stellt das Kind in die Mitte. Und er geht noch weiter und ich bin gespannt nachher von ihnen zu hören, ob ihnen diese Bibelworte bekannt waren. Jesus sagt:
Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.…
6Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.
Diesen Ton kenne ich gar nicht von Jesus. Ich höre diese Sätze und frage mich, warum sie so unbekannt sind. Auch das gehört zu siebenundsiebzigmal vergeben: wer die Schwäche und Ohnmacht von Kindern ausnutzt, stößt auf eine Grenze, die gezogen werden muss.
Jesus ist in dieser Sache ganz klar. Das ist der Geist des Evangeliums für die Schutzlosen, die uns anvertraut sind.
Die ForuM-Studie hält uns vor, dass wir unsere Theologie überprüfen müssen, damit sich unsere Kirche ändern kann, damit wir es schaffen sexualisierter Gewalt in der Kirche ein Ende zu machen.
Dass wir nicht die Täter von sexualisierter Gewalt, sondern die Menschen, die davon betroffen sind, die heute Kinder, Jugendliche oder inzwischen längst Erwachsene sind, in die Mitte stellen. So wie Jesus das Kind.
Aber das ist noch nicht alles, was uns das 18. Kapitel bei Matthäus in dieser Situation mitgibt.
Denn dass Schlimmes geschieht, dass wir auf Vergebung angewiesen bleiben, ist mit dieser Grenzziehung von der wir gehört haben ja nicht aufgehoben. Wir haben in der Evangeliumslesung auch einige Verse gehört, die ich im Studium unter der Überschrift „Gemeinderegel“ kennen gelernt habe. Sie sind für Streitfälle in der Gemeinde aufgeschrieben – und das ist ja genau das, was uns betrifft: wir können wir in der Kirche zukünftig mit Themen der Gewalt und Grenzverletzung umgehen?
VV 15 – 18 Sündigt aber dein Bruder oder dien Schwester an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. 16Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch zweier oder dreier Zeugen Mund bestätigt werde. 17Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.
(das bedeutet: so hört er auf, Teil deiner Gemeinschaft zu sein)
Ganz konkret wird hier beschrieben, wie Unrecht zur Sprache kommen soll. Wenn es im Kleinen geklärt werden kann: gut.
Wenn ein Verdacht oder ein berechtigter Vorwurf im Sand verläuft, so wie es in unserer Kirche in Sachen sexualisierte Gewalt leider immer wieder geschehen ist: nicht gut!
Denn ohne wirkliches Unrechtsbewusstsein wäre Vergebung nicht die Antwort auf ein Schuldeingeständnis und damit die Chance auf Neubeginn. Ohne Unrechtsbewusstsein wird falsche Vergebung eine Verführung, Schuld zu verleugnen oder zu vertuschen.
Viel Verantwortung liegt bei der Gemeinde, mit den Worten des Matthäusevangeliums klingt das so:18Wahrlich, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.

Wir haben die Verantwortung, es besser zu machen. Diese Aufgabe liegt vor uns. Die Forum-Studie ist bitter, aber sie ist ein Anfang und eine Möglichkeit zur Veränderung. Im Presbyterium haben wir gestern gemeinsam eine Fortbildung gehabt. die Leitungsschulung zur Prävention vor sexualisierter Gewalt in der Kirche. Acht Stunden saßen wir zusammen, unsere Köpfe haben geraucht, aber das war wichtig und notwendig.
Wir müssen und werden Hinsehen und Handeln. Und auch unsere Theologie überdenken. Vergebung bleibt etwas, wovon wir leben. Aber die Frage nach der Vergebung ist eine Frage nach der Möglichkeit von Gemeinschaft.
Und zu dieser Gemeinschaft gehören alle. Und die Schutzlosen zuerst.
Amen

Katrin Friedel